Asien gehört das 21. Jahrhundert

Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter des europäischen, insbesondere britischen Imperialismus. Das 20. Jahrhundert gehörte mit den Siegen im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg den Vereinigten Staaten. Das 21. Jahrhundert sieht nun Asien ins Zentrum der Weltwirtschaft und der Weltpolitik rücken.

Der Wiederaufstieg des Milliardenkontinents

Für die westlichen Industrienationen stellt der Anbruch des asiatischen Zeitalters eine Zäsur von viel grösserer Tragweite dar als das Ende des Kalten Kriegs. Damals ging es um eine Neuordnung des europäischen Zivilisationskreises. Heute sieht sich die Welt mit der Renaissance eines Kultur- und Zivilisationskreises konfrontiert, der sich vom Westen in fundamentaler Weise unterscheidet. Überfällig ist die Abkehr vom Eurozentrismus, und nötig ist eine Weltsicht, die auch in ihren historischen Perspektiven wahrhaft kosmopolitisch ist. Selbst die «Weltgeschichtlichen Betrachtungen» von Jacob Burckhardt vermögen vor dieser Herausforderung nicht zu bestehen. Wir müssen zuvörderst erkennen, dass es sich bei der asiatischen Renaissance, vor allem beim Wiederaufstieg von Indien und China, nicht um einen Neubeginn, sondern schlicht um eine Rückkehr zu den Machtverhältnissen im 18. Jahrhundert vor dem Aufbruch der europäischen Prädatoren nach Asien handelt.

Bevorstehender Führungswechsel

Im Vordergrund steht seit rund zwei Jahrzehnten China, was nicht nur dessen wirtschaftlicher Potenz, sondern auch der Tatsache zuzuschreiben ist, dass das Reich der Mitte sich über Jahrhunderte und noch bis in die späten siebziger Jahre von der Aussenwelt abgeschottet hatte. Im Laufe der vergangenen drei Jahrzehnte hat sich die Volksrepublik China von einem verarmten Drittweltstaat zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt entwickelt. In China leben die Menschen heute in verschiedenen Zeitaltern, vom 21. Jahrhundert der Mittelschichten in den Millionenstädten über die Frühzeit der industriellen Revolution bis zur Armut des alten China. Diese Komplexität sorgt für Spannungen, die umso gefährlicher sind, als es in China keine Ventile für eine geordnete Beseitigung von sozioökonomischer und politischer Frustration gibt. Während an der Wirtschaftsfront seit den wegleitenden Reformen Deng Xiaopings in den achtziger und neunziger Jahren grosse Fortschritte realisiert worden sind, herrscht in der Politik weiterhin ein gefährlicher Stau.

China steht im kommenden Herbst vor einem umfassenden Führungswechsel in Staat, Partei und Regierung. Es handelt sich um den Übergang von der vierten auf die fünfte Führungsgeneration. Die Führung, die am 18. Nationalkongress der KPC im Herbst 2012 bestellt wird, wird voraussichtlich zwei Amtsperioden von je fünf Jahren an der Macht sein. Sie wird schon bald mehrere weitreichende Entscheide zu treffen haben, die von der Weiterentwicklung der Währungs- und Wirtschaftspolitik über die Demografie bis zu tiefgreifenden politischen Reformen reichen werden. Lackmustests werden die Modernisierung des Finanzsektors einschliesslich der Konvertibilität des Renminbi-Yuan und die Einführung des Rechtsstaats sein. Ohne solche profunde Erneuerungen wird China nicht nur seine Aspiration, eine wahre Weltmacht zu sein, verpassen, es wird auch seine innere Stabilität und damit seine wirtschaftlichen Errungenschaften infrage stellen.

Chinas wirtschaftliches Gewicht in der Welt wird weiter wachsen, was sich in einer verstärkten Präsenz chinesischer Konzerne und Investoren in allen Teilen der Welt und in einer beschleunigten Übernahme wichtiger Märkte und Ressourcen durch die Chinesen niederschlagen wird. Staats- und Parteichef Hu Jintao hat unlängst erklärt, dass der Export von Gütern allein noch keine Weltmacht ausmache, sondern dass es darum gehe, auch im globalen Wettbewerb der Ideen und Werte präsent zu sein.

Über kaum ein anderes asiatisches Land gibt es so viele vorgefasste Meinungen und Klischees wie über Japan. In den achtziger Jahren fürchtete man, dass die Japaner die Welt übernehmen würden, seit zwei Jahrzehnten wird Japan als «hoffnungsloser Fall» abgeschrieben. Beides war und ist falsch und trägt den wahren Stärken und Schwächen des Landes nicht Rechnung. Diese sind nur mit Kenntnis von Japans eigentümlichem Gesellschaftsvertrag zu verstehen, der auf vier Grundpfeilern, einer sparsamen, frugal lebenden Bevölkerung, substanziellen Vermögenswerten bei Unternehmen und Privatpersonen, einer grossen Innovationskraft und einer in jeder Hinsicht sehr stark zusammenhaltenden Bevölkerung, beruht.

Trotz schwachem Wirtschaftswachstum waren die letzten zwei Jahrzehnte keine «verlorenen Dekaden». Vor allem in der Unternehmenswelt sind wichtige Reformen verwirklicht worden, derweil in der Tat die umfassende Modernisierung von Verwaltung und Politik noch ansteht. Überalterung und eine schrumpfende Bevölkerung zählen zu den gefährlichsten Herausforderungen, deren sich die japanischen Eliten in der nahen Zukunft anzunehmen haben. Die Hauptfrage ist, wie junge japanische Frauen wieder zur Familiengründung bewogen werden können. Positiv zu vermerken ist, dass Japan viel gezielter als Europa sich der Herausforderungen einer alternden Gesellschaft annimmt, sei dies in sozialer, ökonomischer oder technologischer Hinsicht.

Japan sieht den Vormarsch Chinas an die Weltspitze mit Argwohn und ist über die geopolitischen Ambitionen seines riesigen Nachbars besorgt. Dies führt zu verstärktem Interesse an der Kooperation mit Ländern wie Indien, Indonesien, Vietnam und Australien. Japanische Firmen engagieren sich vermehrt in diesen Ländern. Indien gehört heute zu den präferenziellen Investitionszielen von grossen und mittelgrossen japanischen Unternehmen.

Während bilaterale Handelsabkommen in Asien seit jüngstem en vogue sind, müssen Vermutungen über einen künftigen gemeinsamen ostasiatischen Wirtschaftsraum reine Spekulation bleiben. Solange die Aufarbeitung der Verbrechen des japanischen Imperialismus nicht glaubwürdig erfolgt ist, bleiben die Beziehungen zwischen Japan und China sowie Japan und Korea gespannt und gibt es kaum Aussichten auf eine institutionalisierte Kooperation in Nordostasien. Vor diesem Hintergrund ist und bleibt das japanisch-amerikanische Bündnis das wichtigste Fundament der japanischen Aussen- und Sicherheitspolitik.

Wachsende Mittelschichten

Indien, Asiens zweite aufstrebende Grossmacht, hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht und weist seit mehreren Jahren Wachstumsraten auf, die zu den höchsten unter den Schwellenländern zählen. Zwar wurden in Indien die Wirtschaftsreformen später lanciert als in China, doch hat das Land viel Terrain aufgeholt und ist heute die unbestrittene Führungsmacht in Südasien und im Indischen Ozean.

Auch wegen des späteren Starts und wegen Engpässen bei den finanziellen und personellen Ressourcen liegt Indien im Vergleich zu China bei der Modernisierung der Infrastruktur zurück. Die Regierung hat diese Defizite erkannt und grosse Summen für nationale Infrastrukturprojekte gesprochen. In den kommenden Jahren wird hier ein Investitionsvolumen von beinahe 100 Milliarden US-Dollar eingesetzt werden. Dass in Indien Entscheidungsabläufe langsamer und Bewilligungsverfahren zuweilen viel komplizierter sind als in China, hat auch mit der Politik zu tun. Im Gegensatz zur Volksrepublik hat Indien eine rechtsstaatliche Ordnung und eine sehr lebendige Demokratie. Zudem hat das Land, welches eine erheblich vielfältigere Milliardenbevölkerung aufweist als China mit seinen neunzig Prozent Hanchinesen, einen föderalen Staatsaufbau, was politische Entscheidungen verlangsamt. Die innenpolitischen Vorgänge mögen zuweilen turbulent und für Aussenstehende nur schwer verständlich sein. Auch mögen manche angesichts der Armut die Demokratie für «Luxus» erachten. Tatsache ist, dass Indien wegen seiner demokratischen Staatsordnung politisch stabiler ist als China. Eine kompetente Risikobewertung muss im Falle Chinas stets auch die Möglichkeit eines Systemkollapses in Rechnung stellen, was in Indien nicht nötig ist.

Wie in China, so sind auch in Indien die Mittelschichten in den letzten zwei Jahrzehnten stark gewachsen. Im Unterschied zu China, wo noch bis vor zwei Jahrzehnten Privateigentum verboten war und 1949 nach der Machtübernahme der KPC die ganze Bevölkerung enteignet wurde, gibt es in Indien alten, eingesessenen Reichtum. Während in China die Mentalität der Neureichen vorherrscht, verhalten sich Inder bei der Vermögensanlage konservativ. Es wird viel gespart und vorzugsweise in Immobilien und Gold investiert.

Südostasien hat vom Boom in China in mehrfacher Hinsicht profitiert. Erstens haben die südostasiatischen «Tigerstaaten» als Zulieferer und Handelspartner am wirtschaftlichen Aufschwung teil. Zweitens hat Japan, durch die chinesische Expansion auf den Plan gerufen, sein wirtschaftliches Engagement in Südostasien stark heraufgefahren. Zum Dritten ist in jüngster Zeit auch Indien, ebenfalls aus Rivalität zum chinesischen Einfluss, verstärkt in der Region präsent.

Die südostasiatischen Staaten haben ihre Lehren aus der «Asienkrise» von 1997/98 gezogen, so durch intensivierte regionale Kooperation und durch den Ausbau des innerasiatischen Handels und der innerasiatischen Kapitalströme, wodurch die Region vom Verlauf der Konjunktur in den USA und in der EU unabhängiger geworden ist. Aufschlussreich ist, dass China mit verschiedenen südostasiatischen Ländern seinen Handel in Renminbi-Yuan abwickelt, wodurch Volatilitäten, die sich aus dem Dollar ergeben, wegfallen. Darüber hinaus ist dieses Verfahren auch ein Übungsfeld für die volle Konvertibilität der chinesischen Währung, was für deren Aufrücken in den Status einer Leitwährung unerlässlich ist.

Nachdem Vietnam zu den Nachzüglern im Verband der südostasiatischen Regionalorganisation Asean gehört hatte, hat das Land kräftig aufgeholt. Die vietnamesische Wirtschaft kämpft zwar mit Inflationsproblemen, hat aber in den vergangenen zehn Jahren viel an Dynamik gewonnen. In jüngster Zeit ist Indonesien zum «Geheimtipp» geworden. Das bei weitem volkreichste Land Südostasiens hat bei der politischen Konsolidierung grosse Fortschritte gemacht und die düsteren Prophezeiungen von vor ein paar Jahren, dass das riesige Inselreich zerbrechen oder gar einem fundamentalistischen Islamismus anheimfallen werde, glaubhaft widerlegt.

Vor allem in den entlegeneren Teilen hat Indonesien einen grossen Nachholbedarf bei der Bereitstellung von Infrastruktur. Auch um die problematische Übervölkerung der Insel Java zu bekämpfen, fördert Jakarta den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur in den Provinzen. Dabei hat man natürlich auch riesige Rohstoff- und Energievorkommen im Visier, die bisher mangels Strassen und Häfen noch nicht ausgebeutet werden konnten. Von der Grösse seiner Binnenmärkte wie auch von seinem Rohstoffreichtum her ist Indonesien dazu prädestiniert, in Südostasien zu einem Hauptziel der Chinesen, Inder und Japaner zu werden, sowohl beim Handel wie auch bei den Investitionen. Indonesiens geopolitische Aufwertung wird sich in den kommenden Jahren akzentuieren.

Auf dem Modernisierungspfad

Thailands Wirtschaft befindet sich schon erheblich länger auf dem Modernisierungspfad als Vietnam und Indonesien. Thailand leidet in der Welt unter dem falschen Image, es sei nichts anderes als eine Ferien- und Vergnügungsdestination. Dies stimmt mit der Wirklichkeit nicht überein. Als die Grossregion Bangkok überflutet wurde, fand die Welt plötzlich heraus, wie viele wichtige Produkte dort für die Weltmärkte hergestellt werden. Zu den zahlreichen nationalen Vorzügen, über welche Thailand, das nie zur Kolonie einer europäischen Macht herabgewürdigt wurde, verfügt, gehört auch, dass es von allen südostasiatischen Ländern die Gemeinschaft der Überseechinesen am erfolgreichsten integriert hat, sowohl gesellschaftlich als auch wirtschaftlich. Dadurch profitiert Thailand vom chinesischen Boom ganz besonders, ist aber seit langem auch eine willkommene Destination für zahlreiche japanische Firmen.

Südkorea ist es als erstem Entwicklungsland gelungen, in den erlauchten Kreis der OECD-Staaten aufgenommen zu werden. Zusammen mit seinem Nachbarn Japan ist Südkorea sowohl in der OECD als auch in der G-20. Der Aufstieg Südkoreas, das heute in mancher Hinsicht bereits seinem Lehrmeister Japan vorauseilt, ist seiner sehr arbeitsamen Bevölkerung zu verdanken. Das Land verfügt kaum über Rohstoffe und muss zudem unter der dauernden Bedrohung durch den unberechenbaren Nachbarn Nordkorea leben. Dessen ungeachtet hat man den Aufstieg zum Industrieland geschafft. Die Leistung ist umso bemerkenswerter, als noch in den sechziger Jahren Südkorea ärmer als Pakistan war! Heute besitzt Südkorea mehr weltweit bekannte Marken als das viel grössere China! In manchen asiatischen Märkten haben südkoreanische Chaebols begonnen, den Japanern den Rang abzulaufen. Auch blickt man aus Tokio zuweilen neidisch auf die effiziente Exekutivpräsidentschaft, die das Land straff führt und die ihm dauernde Wechsel an der Spitze erspart.

Nachhaltige Entwicklung

Während die westliche Öffentlichkeit von den Fortschritten Asiens, insbesondere Chinas, beeindruckt ist, herrscht bei vielen noch Skepsis vor, ob sich der ganze Aufbruch denn auch als nachhaltig erweisen werde. Blickt man nicht nur auf die Breite, sondern auch auf die Qualität und die Tiefe der sozioökonomischen Entwicklung, dann kann es keine Zweifel geben, dass die Verlagerung des Schwerpunkts der Weltwirtschaft vom Westen nach Asien von langem Bestand sein wird.

Schliesslich gibt es nichts auf dieser Welt, was nicht auch seine Schattenseiten haben würde. Während Asien zum dynamischen Zentrum der Weltwirtschaft geworden ist, ist der Gelbe Kontinent aber auch der Herd für mehrere akute oder schlummernde Konflikte. Wir denken an die koreanische Halbinsel, an das Verhältnis China - Japan, an Taiwan, an das Südchinesische Meer, an den indischen Subkontinent mit der auch Afghanistan belastenden bitteren Rivalität zwischen Islamabad und Delhi sowie an den Indischen Ozean mit seinen verletzlichen Meerengen. Wie das künftige Schicksal der Weltwirtschaft eng mit Asiens Wohlstandsmehrung vinkuliert ist, so gilt auch, dass viele künftige globale Krisen ihre Herde in Asien haben werden.

(Source:  http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/asien_gehoert_das_21_jahrhundert_1.16085448.html)

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